08.00 Uhr Ich erwache redlichst ausgeruht und werde Zeuge, wie dicke Schneeflocken gegen die Fensterscheiben fallen. Obgleich im Gästezimmer eine neumoderne Bodenheizung für ein angenehmes Raumklima sorgt, ziehe ich mir die Bettdecke über die Nasenspitze und sehne mich zurück ins sonnige Naples.
Georgs Stadthaus in Toronto
08.30 Uhr Wenig später wird die himmlische Ruhe durch lautes Klopfen unterbrochen. Ich rolle gähnend aus dem Bett und freue mich, Maria an der Türe anzutreffen. Georgs Ehefrau mustert mich skeptisch und erinnert, dass wir die Kinder gegen 10 Uhr zum Brunch erwarten. Ich nicke eifrig und antworte, dass ich mich nun ins Bad verabschieden werde.
09.00 Uhr Vor dem wichtigsten Mahl des Tages entspanne ich mich bei einem prima Vollbad und nutze die Gelegenheit, um mit Frau Pontecorvo zu telefonieren. Ich treffe meine Nachbarin in Jacksonville, FL an und höre, dass sie sich in der 800.000 Einwohner zählenden Grossstadt pudelwohl fühlt. Die Dame kommt aus dem Plappern gar nicht mehr heraus und sagt, dass sie gestern mit ihrer verrückten Freundin Blanche eine Kunstausstellung im renommierten “Cummer Museum” besucht hat – wie langweilig.
09.30 Uhr Nachdem ich von meiner anstrengenden Anreise nach Toronto erzählt habe, beende ich das Telefonat und schlüpfe in warme Winterkleidung. Natürlich ziehe ich auch lange Unterhosen an und vergesse nicht, in die bequemen Josef Seibel Hausschuhe mit Fellfutter zu steigen.
10.00 Uhr Im Anschluss rutsche ich auf dem Treppengeländer ins Parterre und wünsche Georg, Maria, Prof. Kuhn sowie den Kindern einen schönen guten Morgen. Mein Grossneffe David (8) plärrt wie am Spiess und meint, dass wir mit Hund Dixon zum Ontario See fahren könnten. Ich schüttle den Kopf und entgegne, dass mich bei dieser Kälte nicht einmal zehn Pferde zum See bringen.
Hund Dixon mag Schnee
10.30 Uhr Georg kann sich ein Lachen nicht verkneifen und gibt vor, dass wir nach dem Frühstück zur Mary Lake Farm rasen und dort einen Christbaum besorgen müssen. Als ich auf die preiswerten Weihnachtstannen verweisen, die vor der “Centerpoint Mall” veräussert werden, belehrt mich mein Bruder eines Besseren und sagt, dass er seine Tanne höchstpersönlich im Wald schlagen wird – das kann ja heiter werden.
11.15 Uhr Als der Minutenzeiger meiner wertvollen ROLEX auf Viertel nach Elf deutet, trinke ich den letzten Schluck Kaffee und erfahre von James, dass er ins Aufnahmestudio fahren und gemeinsam mit Herrn Sam Dietz ein Lied einstudieren wird. Selbstverständlich löchere ich meinen Neffen mit Fragen und höre, dass er derzeit mit einer aufstrebenden Landmusikkapelle an deren erstem Studioalbum feilt – wie aufregend.
11.45 Uhr Nun wird es aber langsam Zeit, in die Moon Boots (löblich: Mondstiefel) zu schlüpfen. Edelbert tut es mir gleich und verkündet, dass es ihm grosse Freude bereitet, in Kanada den Winter zu erleben. Ich helfe Hund Dixon auf die Rückbank des luxuriösen Grand Cherokee Geländewagens und erwidere, dass ich mit Kreuzschmerzen zu kämpfen habe. Georg hat nur Hohn und Spott über und sagt, dass die Kanadier bei -10°C Barbecues (löblich: Grillfeierlichkeiten) im Freien veranstalten – wie unlöblich.
12.30 Uhr Kurz nach dem Mittagsläuten erreichen wir ein weitläufiges Farmgelände vor den Toren Torontos. Georg schnalzt mit der Zunge und sagt, dass er den Besitzer seit vielen Jahren kennt. Zu allem Überfluss wuchtet mein Bruder eine benzinbetriebene Kettensäge von der Ladefläche und macht es sich zur Aufgabe, dem Landwirt in den Stallungen einen Besuch abzustatten.
13.15 Uhr Während die Männer angeregt tratschen, nehme ich mit Edelbert den Tierbestand in Augenschein und registriere, dass auf der Farm nicht nur Kühe und Schweine, sondern auch sogenannte Dahomeys leben. Ich wende mich Prof. Kuhn zu und lerne, dass die Dahomeys zu der kleinsten Rinderrasse der Welt zählen und besonders in Nordamerika bei Feinschmeckern beliebt sind.
14.00 Uhr Nach dem Plausch führt uns der Landwirt in den nahegelegenen Wald und fordert uns auf, nach einem geeigneten Baum Ausschau zu halten. Wir werden schnell fündig und entschliessen uns, eine zwei Meter hohe Korktanne zu fällen. Auch diesmal ist Edelbert bestens informiert und sagt, dass die Korktanne in Kanada den Namen “Rocky Mountain Tree” trägt – das soll mir auch Recht sein.
14.45 Uhr Endlich haben wir unser Werk vollbracht und den Baum mit vereinten Kräften auf dem Autodach befestigt. Um nicht zu Eiszapfen zu erstarren, steigen wir schnell ins geheizte KFZ und treten die Heimfahrt an. HEUREKA – diese Kälte wirft sogar den stärksten Rentner aus der Bahn.
15.30 Uhr Zurück im Stadthaus meines Bruders werden wir von Maria und Haushälterin Grace herzlich begrüsst. Während Edelbert meinem Bruder hilft, den Christbaum auf die Terrasse zu schleppen, nehme ich am Kamin Platz und wärme meine Hände über dem knisternden Feuer. Bei dieser Gelegenheit halte ich mit Frau Grace Kleingespräche (unlöblich: Smalltalk) und bringe heraus, dass sich die Haushaltshilfe gleich in den Weihnachtsurlaub verabschieden wird. Ich nehme ein köstliches Plätzchen vom Wohnzimmertisch und stelle klar, dass wir in vier Tagen zum Ferienhaus fahren und phantastische Tage am Lake Simcoe verbringen werden.
Lake Simcoe im Winter 2012
16.30 Uhr Nachdem ich mich von den Strapazen erholt habe, geselle ich mich an die weihnachtlich geschmückten Esstisch und werde von Maria mit einem süffigen Labatt Blau Bier und vitaminreichen Sandwiches (löblich: belegten Broten) überrascht. Darüber hinaus hüpft David auf meinen Schoss und lotet aus, ob er viele Geschenke vom Christkind erwarten kann. Ich streiche dem 8jährigen über den Kopf und verspreche, dass er angesichts der kostspieligen Präsente aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen wird. David gibt sich erleichtert und sagt, dass er das ganze Jahr über sehr brav war und stets gute Noten in der Schule bekommen hat – wie schön.
17.30 Uhr Nach der Brotzeit verabschiedet sich Amanda und kündigt an, James vom Musikstudio abholen zu müssen. Ich kneife David in die Backe und sichere ihm zu, dass wir uns Morgen wiedersehen werden.
18.00 Uhr Endlich beginnt der wohlverdiente Feierabend. Georg führt uns ins holzvertäfelte Wohnzimmer und zögert nicht, uns rauchigen Bourbon zu kredenzen. Ferner schaltet der gute Mann den überdimensionalen SONY Fernseher ein und sagt, dass wir uns den Abend mit dem Spielfilm “The Assassination of Jesse James” (auf deutsch: Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford) versüssen werden. Obwohl ich den Streifen bereits kenne, lehne ich mich zurück und lasse mir Plätzchen am laufendem Band schmecken.
21.00 Uhr Nach dreistündiger Spitzenunterhaltung flimmert der Abspann über die Mattscheibe. Ich strecke mich ausgiebig und gebe zu Protokoll, dass ich Dixon noch einmal in den Garten hinauslassen und mich dann schlafen legen werde. Maria schlägt in die gleiche Kerbe und meint, dass morgen ein anstrengender Tag bevorsteht.
21.30 Uhr Nachdem der Vierbeiner die hochgewachsene Tanne im Garten bewässert hat, wünsche ich den lieben Leuten angenehme Träume und ziehe mich erschöpft ins Gästezimmer zurück. Gute Nacht.