08.30 Uhr Der vorletzte Tag des Jahres bricht an und ich habe gar keine Orientierung. Um einen genauen Überblick zu bekommen, kratze ich die Eisblumen vom Fenster und schaue neugierig nach draussen. Prompt fällt mir wieder ein, dass ich mich seit gestern im verschneiten Gilford Beach aufhalte – wie aufregend.
Am verschneiten Lake Simcoe
09.00 Uhr Obgleich es zu schneien aufgehört hat, fasse ich nach einer heissen Dusche den Entschluss, Kniestrümpfe, lange Unterwäsche sowie den Schneeanzug anzuziehen. Anschliessend laufe ich in die Küche und wünsche meinen Liebsten einen guten Morgen. Edelbert tippt demonstrativ auf seine Armbanduhr und behauptet, dass er schon seit zwei Stunden auf den Beinen ist.
09.45 Uhr Während ich mir das Frühstück schmecken lasse, sortiert Georg seine Angelausrüstung und kündigt an, dass er gleich mit James auf den zugefrorenen Lake Simcoe hinausgehen und ein Loch ins Eis bohren wird. Mein Neffe strahlt wie ein Honigkuchenpferd und ist sich sicher, dass er einen Barsch fangen wird. Ich zucke mit den Schultern und entgegne, dass ich währenddessen dem Vierbeiner etwas Auslauf verschaffen werde. Leider fällt mir Maria ins Wort und bittet mich, den Vormittag zu nutzen, um in Barrie Einkäufe zu erledigen.
10.30 Uhr Obwohl ich keine Lust habe, bei diesen Schneemassen durch die Gegend zu krusen, willige ich ein und fordere Edelbert auf, mich zu begleiten. Der schlaue Mann lehnt jedoch ab und sagt, dass er es vorziehen wird, mit Georg, James und Hund Dixon dem Eisfischen zu frönen – wie schade.
Löbliche Mondstiefel
11.00 Uhr Als der Stundenzeiger meiner ROLEX auf 11 zugeht, steige ich in die Moonboots (löblich: Mondstiefel) und lasse mir von Amanda die Autoschlüssel für den TOYOTA aushändigen. James Ehefrau legt ihren Zeigefinger an die Unterlippe und meint, dass ich gerne David mitnehmen kann – das hat gerade noch gefehlt.
11.30 Uhr Wenig später lotse ich meinen Grossneffen in den geräumigen TOYOTA SIENNA und gebe zu Protokoll, dass ich ihm in Barrie einen “heissen Hund” (unlöblich: Hot Dog) spendieren werde. Der Knirps klatscht in seine kleinen Hände und plappert davon, dass wir ausserdem Silvesterknaller besorgen sollten.
12.00 Uhr Ausgestattet mit einem ellenlangen Einkaufszettel machen wir uns auf den Weg nach Norden. Ich folge dem Highway 400 und erfahre auf einer Werbetafel, dass im Zentrum der 130.000 Einwohner zählenden Gemeinde die “Georgian Mall” zu finden ist – das ist phantastisch.
12.30 Uhr Nach einer nervenaufreibenden Autofahrt passieren wir endlich das Ortsschild von Barrie und wechseln kurzerhand auf die Bayfield Road. Mein Begleiter ist ganz aus dem Häuschen und berichtet, dass in der Kaufhalle sogar ein “Sourche” Elektronikgeschäft beheimatet ist. Ich schüttle augenrollend den Kopf und stelle klar, dass ich ganz bestimmt kein Geld für jugendgefährdende Heimrechnerspiele ausgeben werde.
13.00 Uhr Nachdem ich das Auto geparkt habe, nehme ich den Buben an die Hand und eile fröstelnd ins Kaufhaus, um in einem Supermarkt Produkte des täglichen Bedarfs auszuwählen.
Ich bezahle mit Kreditkarte
13.45 Uhr Fünfundvierzig Minuten später stehe ich mit meinem nörgelnden Grossneffen an der Kasse und sehe mich gezwungen, 87 Dollars zu bezahlen. Da mir Maria kein Geld mitgegeben hat, zücke ich meine Geldbörse und begleiche die Zeche mit meiner praktischen Meisterkarte (unlöblich: Mastercard). Anschliessend lotse ich den Neunjährigen ins “Moxie’s Classic Grill” Schnellessgasthaus und ordere zwei Hot Dogs mit Sauerkraut. Dazu gibt es durstlöschende 7UP Limonade sowie feurigscharfe Kartoffelspalten – das schmeckt.
14.30 Uhr Just als ich mit David den Waschraum aufsuche, um ihm Sauerkraut aus den Haaren zu kämmen, summt plötzlich die Schwarzbeere (unlöblich: Blackberry). Zu meiner Freude meldet sich Frau Pontecorvo und lotet aus, ob ich mich in Kanada wohlfühle. Natürlich belehre ich die kleine Frau eines Besseren und erwähne, dass ich von meiner Schwägerin genötigt wurde, zum Supermarkt zu fahren. Ich schimpfe wie ein Rohrspatz und gebe meiner Nachbarin zu verstehen, dass von Erholung keine Rede sein kann.
15.00 Uhr Bevor wir nach Hause fahren, zerrt mich David in ein “Sears” Geschäft und animiert mich, ihm Knaller zu spendieren. Missmutig komme ich der Bitte nach und investiere weitere 60 Dollars in Raketen und Chinaböller.
15.30 Uhr Schnaufend schwinge ich mich auf den Fahrersitz und lasse den Hebel der Automatikschaltung elegant in der “D” Stellung einrasten. Während der kurzweiligen Reise schiebe ich eine von James Scheiben in die Musikanlage und lausche dem Bob Seger Album “Night Moves” (löblich: Nächtliche Züge) – da kommt Freude auf.
16.15 Uhr Zurück im Feriendomizil, finde ich Amanda und Maria tratschend in der warmen Stube vor. Ich klopfe mir den Schnee von den Stiefeln und erzähle, dass ich in Barrie ein kleines Vermögen gelassen habe. Amanda späht argwöhnisch in die Tüten und schimpft, weil ich Raketen gekauft habe. Um mich nicht rechtfertigen zu müssen, mache ich spornstreichs kehrt und sehe nach meinem Bruder.
17.00 Uhr Bei einsetzender Dunkelheit schlendere ich zum Ufer und werde von Dixon, Georg, Edelbert und meinem Neffen herzlich begrüsst. James deutet stolz in Richtung eines Eimers und verkündet, dass wir Morgen Fisch essen werden. Ich nehme den Fang beeindruckt in Augenschein und lerne, dass meine Verwandten fünf Seesaiblinge gefangen haben – schon jetzt läuft mir das Wasser im Munde zusammen.
17.30 Uhr Um nicht zu Eiszapfen zu erstarren, kehren wir zum Ferienhaus zurück und freuen uns auf das Abendessen. Die Frauen servieren vitaminreiche Nudeln mit Käsesauce und plappern darüber, dass wir am Abend den Familienfilm “Kevin Home Alone 2” (auf deutsch: Kevin 2 – Alleine in New York) anschauen werden – wie schön.
18.15 Uhr Nachdem wir die Hausarbeit erledigt haben, verabschieden wir uns in das überheizte Nebengebäude, um den Tag bei Popcorn (löblich: Knallmais) und einem Spielfilm ausklingen zu lassen. Ich falle erschöpft in einen Ledersessel und werde Zeuge, wie Georg den Projektor in Betrieb nimmt. Wenige Augenblicke später flimmern bunte Bilder über die überdimensionale Leinwand und ich tauche in das Leben des kleinen Kevin McCallister ein, der im grossen Apfel (unlöblich: Big Apple) allerhand Abenteuer erleben muss – wie aufregend.
20.15 Uhr Nach zweistündigem Nervenkitzel kommt es doch noch zu einem glücklichen Ende (unlöblich: Happy End). Ich schiebe mir ein Weihnachtsplätzchen in den Mund und lasse die Anwesenden wissen, dass ich nun einen Spaziergang mit Dixon unternehmen werde.
20.45 Uhr Bei -12°C führe ich das Haustier um das Anwesen und höre aus dem Wald ein eigenartiges Knurren. Weil in Ontario nicht nur Elche und Bären, sondern auch gefährliche Wölfe leben, mache ich schnell kehrt und verschliesse die Pforte besonders sicher. Im Anschluss wünsche ich meiner Familie angenehme Träume und ziehe mich ins Gästezimmer zurück. Gute Nacht.