10. Juli 2015 – Spruce Peak Shelter

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07.30 Uhr Ich werde durch aggressives Bellen geweckt und spähe neugierig durch das verschmierte Fenster des “Stratton Pond Shelter”. Zu allem Überfluss werde ich auf eine Horde Wanderer aufmerksam, die zu früher Stunde einen Höllenlärm veranstalten. Missmutig schlüpfe ich aus dem Schlafsack und eile mit Dixon im Schlepptau hinaus, um die Rabauken zur Ordnung zu rufen. Der Wortführer (25) wünscht mir einen guten Morgen und behauptet, dass er aus Schweden stammt und einige Freunde entlang des Appalachian Trails begleitet. Ferner deutet Herr Gustav gen Osten und sagt, dass der Ausblick auf den Stratton Mountain herrlich ist. Ich nicke eifrig und mache es mir zur Aufgabe, Holz aufzuschichten und ein Feuer zu entzünden.

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Hund Dixon bellt wild

08.15 Uhr Wenig später kommt Edelbert dazu und erzählt, dass er schon seit einer Stunde auf den Beinen ist und im Wald nach Beeren Ausschau gehalten hat. Zu meiner Freude überreicht mir mein Bekannter eine Portion Erdbeeren und meint, dass wir die Früchte zum Frühstück fressen können.
09.00 Uhr Nachdem wir mit den schwedischen Jungspunden Kaffee getrunken haben, sorgen wir im Shelter für Sauberkeit und entschliessen uns, die Wanderung fortzusetzen. Just als ich meine Habseligkeiten in den Rucksack verfrachte, klopft mir Herr Gustav auf die Schulter und händigt mir etwas Kaffeepulver, in Zellophan abgepackten Käse sowie einige Scheiben Weissbrot aus – wie aufmerksam.

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Wir essen Walderdbeeren

09.45 Uhr Zu guter Letzt schütteln wir Hände und spazieren in Richtung Norden weiter. Mit einem lustigen Lied auf den Lippen folge ich dem Trail bergauf und habe das Vergnügen, den wunderschönen Stratton Mountain zu sehen, der während der Wintermonate ein beliebtes Ausflugsziel für Wintersportler ist.
10.30 Uhr Als ich Dixon ein Stöckchen zuwerfe, meldet sich Edelbert zu Wort macht mich auf den Umstand aufmerksam, dass sein GPS-fähiges Handtelefon kein Signal empfängt. Ich seufze laut und antworte, dass wir grösste Vorsicht an den Tag legen und den Wanderweg unter keinen Umständen verlassen sollten – immerhin zählt Vermont zu den dünn besiedeltsten Gebieten der Vereinigten Staaten. Mein Begleiter gibt mir Recht und stimmt das schöne Wanderlied “Horch, was kommt von draussen rein” an – da kommt Freude auf.
11.30 Uhr Nach drei Meilen stehen wir plötzlich auf einer Lichtung und freuen uns, einen Wildhüter zu treffen. Der Mann lüftet seinen Hut und erkundigt sich in einem kaum verständlichen Dialekt, wohin wir unterwegs sind. Ich deute spornstreichs nach Norden und verrate, dass wir am Sonntag in Weston eintreffen wollen. Der Heini wünscht uns viel Erfolg und kündigt an, dass das Wetter schön bleiben wird – das ist phantastisch.
12.30 Uhr Pünktlich zur Mittagszeit passieren wir den “William B. Douglas Shelter” und nehmen uns das Recht heraus, eine kurze Pause einzulegen. Ich lasse mich erschöpft auf der Holzbank nieder und bemerke, dass es rund um die Holzhütte bestialisch stinkt. Der Professor rümpft seine Nase und meint, dass wir schleunigst das Weite suchen sollten. Ruckzuck schultern wir unsere Ranzen und ziehen es vor, am nahegelegenen Fluss zu rasten.

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Wir rasten an einem Fluss

13.15 Uhr Während ich meine Füsse im kühlen Nass bade, bereitet Edelbert eine kleine Brotzeit vor und vergisst auch nicht, den Vierbeiner mit Trockenfutter zu versorgen. Nebenher plaudern wir angeregt und verabreden, dass wir unser Nachtlager im vier Meilen entfernten “Spruce Peak Shelter” aufschlagen werden.
14.00 Uhr Redlichst gestärkt kehren wir auf dem Trail zurück und lauschen während unseres Spaziergangs dem Gezwitscher der Vögel. Edelbert ist bestens informiert und verrät, dass im “Green Mountain National Forest” auch der seltene Waldsänger beheimatet ist, der wegen seines farbenfrohen Gefieders im 19. Jahrhundert gejagt wurde. Ich winke ab und genehmige mir einen Schluck aus der Wasserflasche – das tut gut.
14.45 Uhr Wir laufen unaufhaltsam nach Norden und planen währenddessen die kommenden Tage. Bei dieser Gelegenheit komme ich auf meine Verwandten zu sprechen und schlage vor, dass wir uns am Montag ein Auto mieten und kurzerhand nach Toronto krusen sollten. Ich schwärme in den höchsten Tönen und stelle klar, dass es ein Spass wäre, Georg und Maria am Lake Simcoe zu überraschen. Leider ist der Professor von dieser Idee ganz und gar nicht angetan und sagt, dass er noch einige Tage in Albany bleiben will – wie unlöblich.
15.45 Uhr Kurz vor dem Ende unserer Tagesetappe, ist es uns möglich, einen Blick auf eine beschauliche Kleinstadt zu werfen. Ich schaue deprimiert nach Westen und lasse Edelbert wissen, dass es sich hierbei um die 2.000 Einwohner zählende Gemeinde Manchester Center handelt. Der Professor fällt mir ins Wort und sagt, dass wir die Nacht ganz bestimmt nicht in einem gemütlichen Motel verbringen werden – wie schade.

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Hündin Xena

16.45 Uhr Sechzig Minuten später erreichen wir den “Spruce Peak Shelter” und sind überrascht, zwei junge Frauenzimmer samt Hündin anzutreffen. Die Mädchen stellen sich uns als Emily und Lydia (32, 31) aus Norfolk, VA vor und plappern davon, dass sie ebenfalls im “Spruce Peak Shelter” schlafen wollen. Während Dixon aufgeregt auf und ab hüpft und Hündin Xena neugierig beschnüffelt, ziehe ich meine Jacke aus und genehmige mir einen Schluck Wasser. Unterdessen kommt Edelbert mit den Damen ins Gespräch und zögert auch nicht, ihnen beim Feuermachen zu helfen.
17.15 Uhr Just als Edelbert von seiner Zeit an der Berkeley Universität in Kalifornien erzählt, lehne ich mich gähnend zurück und denke daran, wie schön es doch wäre, jetzt auf meiner schattigen Terrasse zu sitzen und ein kühles Budweiser zu trinken – leider kann man im Leben nicht alles haben.

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Ich träume von einer kühlen Halben

18.00 Uhr Ich erwache ausgeruht und freue mich auf das Abendessen. Edelbert hat in der Zwischenzeit etwas Reis aufgekocht und serviert dazu vitaminreiches Dörrfleisch. Ich beisse kraftvoll zu und erwähne, dass ich mich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten kann. Der schlaue Mann schlägt in die gleiche Kerbe und meint, dass es kein Vergnügen ist, in dieser bergigen Gegend zu wandern. Fräulein Emily versorgt uns mit Fakten und berichtet, dass sie im letzten Jahr den 4000 Meter hohen Mount Whitney in Kalifornien bestiegen hat – das ist ja allerhand.
20.00 Uhr Als sich die Nacht über den Green Mountain Nationalforst legt, werfen wir noch etwas Holz ins Feuer und fassen den Entschluss, jetzt in die Schlafsäcke zu schlüpfen. Ich streiche Hund Dixon noch einmal übers Fell und döse bald ein. Gute Nacht.