08.00 Uhr Ich schlage die Augen auf und stelle beim Blick auf den Wandkalender fest, dass der 9. November für meine alte Heimat von grösster Bedeutung ist. Wie jedes Kind weiss, ereigneten sich am 9. Tag im November wegweisende Geschehnisse, die teilweise auch internationale Auswirkungen hatten. Mit erhobenem Zeigefinger wende ich mich dem Vierbeiner zu und belehre, dass am 9. November des Jahres 1989 die Mauer fiel. Ferner erinnere ich an die Novemberpogrome im Jahre 1938, die blutige Novemberrevolution 1918 sowie den sogenannten Hitler-Ludendorff-Putsch anno 1923. Anstatt grosse Augen zu machen, gähnt Dixon ausgiebig und trottet mit einem quietschenden Spielzeug in den Garten – das ist wieder typisch.
Der 9. November – ein wichtiges Datum
08.45 Uhr Nach der Morgengymnastik ziehe ich mich ins Bad zurück und rufe kurzentschlossen in Kanada an, um mit Amanda zu plaudern. Natürlich komme ich auf James anstehenden Geburtstag zu sprechen und lote aus, ob der gute Junge einen Wunsch hat. Die Ehefrau meines löblichen Neffen nickt eifrig und meint, dass James einen Porsche fahren möchte. Selbstverständlich nehme ich der jungen Frau sogleich den Wind aus den Segeln und unterbreite, dass mir leider das nötige Kleingeld fehlt, um einen schnittigen Sportwagen zu kaufen.
09.45 Uhr Nachdem ich erfahren habe, dass sich James sehr über das neue Blake Shelton Studioalbum freuen würde, beende ich das Gespräch. Ruckzuck hüpfe ich aus der Wirbelbadewanne und mache es mir zur Aufgabe, mich an den Heimrechner zu setzen und den Amazon Warenbestand in Augenschein zu nehmen. In Windeseile werde ich fündig und nehme mir das Recht heraus, ein Exemplar mit dem Titel “Texoma Shore” zu kaufen und an James Wohnadresse am Highbridge Place in Toronto zu senden. Ausserdem lasse ich mich nicht lumpen und erwerbe für 30 Dollars einen Geschenkgutschein – James wird ganz grosse Augen machen.
10.30 Uhr Just als ich mich in Schale werfe, bimmelt es besonders laut an der Pforte und ich kann Georg und Maria recht herzlich begrüssen. Meine Verwandten präsentieren eine Tüte Backwaren und beteuern, dass sie schmackhafte Cinnamon Rolls (löblich: Zimtschnecken) in der Biscotti Farrugia Bäckerei besorgt haben. Weil mein Magen knurrt, winke ich die netten Leute spornstreichs herein und brühe frischen Kaffee auf.
Ich beisse kraftvoll zu
11.00 Uhr Während wir das Frühstück auf der schattigen Terrasse geniessen, bringe ich mein Telefonat mit Amanda zur Sprache und verrate, dass ich mich in Unkosten gestürzt und für James ein kleines Präsent besorgt habe. Meine Schwägerin strahlt über das ganze Gesicht und ist sich sicher, dass ihr Sohn grosse Freude am neuen Werk des aus Oklahoma stammenden Landmusiksängers haben wird – das will ich doch hoffen.
12.00 Uhr Pünktlich zur Mittagszeit stösst Frau Pontecorvo zu uns und plappert ohne Unterlass. Unter anderem lässt die Perle ihren gestrigen Lichtspielhausbesuch Revue passieren und legt uns nahe, ebenfalls ins Kino zu gehen und den Film “LBJ” anzuschauen, der sich mit dem Leben des 36. Präsidenten der Vereinigten Staaten beschäftigt. Ich überlege nicht lange und unterbreite, dass Lyndon Baines Johnson ein hervorragender Staatsmann war und sich nicht nur für die Armen, sondern auch um die Rechte der Indianer eingesetzt hat. Meine Nachbarin schlägt in die gleiche Kerbe und setzt uns ausserdem darüber in Kenntnis, dass Präsident Johnson eine harte Linie gegen den Kommunismus gefahren und unzählige amerikanische Soldaten nach Vietnam entsendet hat – wie wahr.
Präsident Lyndon B. Johnson
13.00 Uhr Da meine Verwandten am Nachmittag schoppen wollen, begleite ich sie zur Türe und erinnere, dass Morgen der “Veterans Day” (löblich: Veteranen Tag) ansteht. Voller Vorfreude verweise ich auf die Militärparade in Fort Myers und merke an, dass ich mir diesen farbenfrohen Umzug nicht entgehen lassen werde. Georg ist hellauf begeistert und sichert zu, mich nach Fort Myers zu begleiten – das ist die beste Nachricht des ganzen Tages.
13.45 Uhr Nachdem ich Frau Pontecorvo verabschiedet und die Geschirrspülmaschine in Betrieb gesetzt habe, falle ich erschöpft aufs Kanapee und döse nach wenigen Augenblicken ein.
14.45 Uhr Ich erwache ausgeruht und registriere beim Blick nach draussen, dass sich der Nachbarshund am Teich eingefunden hat. Um Dixon eine Freude zu bereiten, öffne ich die Türe und animiere ihn, mit Joey zu spielen.
15.00 Uhr Danach nehme ich am Schreibtisch platz und gehe Anschnur. Weil man der garstigen Jugend kaum noch über den Weg trauen kann, gebe ich mich der Anschnurarbeit hin und helfe verzweifelten Erziehungsberechtigten aus schier ausweglosen Situationen. Unter anderem rate ich einer Mutter aus Dresden, ihrem Sohn den Umgang mit ungewaschenen Pankern zu verbieten – wo kommen wir denn da hin.
16.00 Uhr Nach getaner Arbeit, fahre ich das Betriebssystem mausdrückend herunter und eile in den Garten, um den Hunden lustige Kauknochen zu kredenzen. Ferner stelle ich den Rasensprenger an und lasse es mir auch nicht nehmen, mit Herrn Booth ein Kleingespräch (unlöblich: Smalltalk) zu halten. Der hochdekorierte Vietnamveteran legt beste Laune an den Tag und kündigt an, dass er morgen auch in Fort Myers sein wird, um stolze Soldaten in frischaufgebügelten Uniformen hochleben zu lassen – wie aufregend.
Dixon bekommt Kauknochen – das schmeckt
17.00 Uhr Nun wird es aber langsam Zeit, den Vierbeiner ins Haus zu lotsen und das Nachtmahl vorzubereiten. Mit flinken Fingern zerkleinere ich eine Zwiebel und gebe dann etwas Butter in eine Pfanne, um zu guter Letzt ein vitaminreiches Minutenschnitzel herauszubraten. Dazu gibt es einen bunten Beilagensalat sowie köstliche Kartoffelstäbe – wie gut das duftet.
18.00 Uhr Ein anstrengender Tag neigt sich langsam seinem Ende zu. Um etwas Abwechslung zu bekommen, schalte ich die Glotze ein und folge mit grossem Interesse den Nachrichten auf FOX. Zudem telefoniere ich mit Edelbert und lade auch ihn ein, mich morgen nach Fort Myers zu begleiten.
19.00 Uhr Zur Hauptfernsehzeit wechsle ich auf PBS und erfreue mich an der sehenswerten Dokumentation “Country Roads – The Heartbeat of America” (auf deutsch: Landstrassen – Herzschlag Amerikas). Das preisgekrönte Fernsehformat berichtet anschaulich über den Einfluss der traditionellen Landmusik (unlöblich: Country Music) auf die Nachkriegsgeneration in den Vereinigten Staaten – da kommt Freude auf.
21.00 Uhr Nach zwei Stunden schalte ich den Flachbildschirm gähnend aus und führe den Rüden noch einmal durch den Garten. Im Anschluss lösche ich das Licht und lege mich ins Bett. Gute Nacht.